19.08.2023

Zwischen Erinnern und Vergessen

Mit Dein Fortsein ist Finsternis hat der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson ein rätselhaftes Werk vorgelegt, in dem Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Ein faszinierender Grenzgang zwischen Literatur und Philosophie über die großen Fragen des Lebens.

 

Landmannalaugar im Südwesten Islands. Bild von Joshua Sortino auf Unsplash.
Familiengeschichte über Generationen hinweg: "Dein Fortsein ist Finsternis". © Joshua Sortino auf Unsplash.

 

Ein Mann erwacht in einer alten Kirche. Drei Reihen hinter ihm sitzt der Teufel. Oder ist es ein Diener Gottes? Existiert der geheimnisvolle Begleiter überhaupt? Und er selbst? „Vielleicht bin ich schlichtweg tot.“

 

Der Erzähler in Jón Kalman Stefánssons Roman Dein Fortsein ist Finsternis ist alles andere als zuverlässig, gestrandet in einem isländischen Fjord, namenlos und ohne Erinnerung.

 

Mit dem mysteriösen Kirchenmann hat er eine eigentümliche Abmachung: Während er schreibt, verlangsamt sich die Zeit; doch dafür muss er Geschichten liefern.

 

Ein Erzähler, der sich in seiner Rolle als allwissender Weltenlenker selbst unbehaglich fühlt: Schon in der Rahmenhandlung verschwimmen Traum und Wirklichkeit, Realität und Fiktion. Ein Motiv, mit dem Stefánsson in seinem 500-seitigen Werk immer wieder spielt.

 

Die Geschichte widersetzt sich jedem Versuch, sie in ein Korsett zu pressen. Auf der Suche nach seiner verlorenen Identität folgen wir dem Erzähler über mehr als 100 Jahre, treffen auf immer neue Figuren und unterschiedliche Handlungsstränge.

 

Zeitebenen vermischen sich

 

Anfang des 19. Jahrhunderts begegnen wir der einfachen, aber wissbegierigen Hochland-Bäuerin Guðriður, dem Seemann Jón, ihrem Sohn, der am Alkohol zugrunde geht, dessen Nachkommen Skúli, der in einer Pflegefamilie aufwächst und mit Hafrún sein Glück findet, schließlich ihren Söhnen Halldór und Páll, die am Leben verzweifeln, und Enkel Eiríkur, der ohne Mutter groß wird, aber dafür mit der Musik von Bob Dylan und Led Zeppelin.

 

Nichts davon ist chronologisch erzählt. Die Zeitebenen vermischen sich, Handlungsfäden enden scheinbar im Nichts, nur um zweihundert Seiten später wieder aufgenommen zu werden.

 

In seinem eposartigen Werk, das jetzt in der grandiosen Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig auf Deutsch vorliegt, wirft Stefánsson die großen Leitfragen des Lebens auf: Was prägt unsere Identität? Was ist Schicksal und was persönliche Verantwortung?

 

Die wissensdurstige Bäuerin Guðriður schreibt einen Artikel für eine Fachzeitschrift; so lernt sie den Pfarrer Pétur kennen, und bald stellt die Liebe ihr Leben und das ihrer Familien auf den Kopf. Guðriður, hochschwanger, flüchtet nach Kanada, doch vergessen kann sie nicht.

 

Ihr Sohn Jón, zurück in Island, verdingt sich als Seemann, doch seine Dämonen wird er nicht los. Auch seine Enkel Halldór und Páll suchen vergeblich nach Halt. Wird Eiríkur, der letzte in der Reihe, sein Glück finden?

 

Es geht um Erinnern und Vergessen, Schuld und Vergebung, die Macht der Liebe, Vergänglichkeit und den Tod. Stefánsson findet dafür eine bildgewaltige Sprache, die an Lyrik erinnert. Ein berückendes Werk, rätselhaft wie das Leben selbst.

Text: Nicole Maschler

 

 

 

Jón Kalman Stefánsson

Dein Fortsein ist Finsternis

Piper Verlag 2023

544 Seiten



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