22.05.2022
In Nachtdämmern setzt Islands bekannteste Dichterin Steinunn Sigurðardóttir dem Gletscher ihrer Kindheit ein Denkmal. Sie verwebt Erinnerungen, Zukunftsszenarien und Fragen nach Heimat und Identität zu einer poetischen Klage gegen die Umweltzerstörung.
Vatnajökull ist Europas größter Gletscher – ein Titan aus Eis. Für Steinunn Sigurðardóttir ist er ein Begleiter aus Kindheitstagen, ein alter Freund.
Mit ihrem 2019 in Island veröffentlichten Gedichtband Nachtdämmern hat sie dem weißen Riesen ein Denkmal gesetzt. Denn der eisige Berg – er stirbt. Schuld daran ist der Klimawandel.
Und so sind die in dem schmalen Band versammelten Gedichte, die jetzt im Dörlemann Verlag auf Deutsch erschienen sind, auch ein poetischer Klagegesang. Steinunn Sigurðardóttir verhandelt darin eines der großen Themen der Gegenwart und zeigt, wie kraftvoll Lyrik sein kann. Aktuell, erschütternd – und zugleich wunderschön.
Islands bekannteste Dichterin arbeitete lange als Hörfunk- und Fernsehjournalistin, und das schlägt sich in ihrer Arbeit als Lyrikerin nieder. Sie nähert sich ihrem Thema von verschiedenen Seiten.
In sieben Hauptkapiteln verwebt sie ihre eigenen Kindheitserinnerungen mit Stimmen von Anwohnenden, Zukunftsszenarien und Fragen nach Heimat und Identität. Schlaglichtartige Momentaufnahmen in knappen Sätzen und glasklarer Sprache – von Kristof Magnusson virtuos übersetzt.
Traumhafte Verse von großer Dringlichkeit
Die Natur, sie ist für Sigurðardóttir etwas Lebendiges, trägt gleichsam wesenhafte Züge. Das verleiht den Versen etwas Traumhaftes – und zugleich eine große Dringlichkeit.
Denn der weiße Gigant – er leidet. Was ewig schien, verschwindet in nur einer Generation.
jetzt sieht man ihn von Svínafell nicht mehr.
Er den bald niemand mehr sieht.
Er der ins meer fließt
ganz und gar, senkrecht waagerecht.
Das vielleicht noch zu lebzeiten unserer kinder.
Doch die Reaktionen der Menschen, die seit jeher am und mit dem Gletscher leben, reichen von Achselzucken bis hin zu Ratlosigkeit.
auf einem gletscher zu sein, ist nichts
besonderes, ich habe das nie als etwas
besonderes empfunden. (...)
Also besser wäre das nicht.
ich denke halt selten darüber nach
Und wir sprechen nicht darüber hier im
landkreis
Der Gletscher ruft zwiespältige Gefühle hervor, schön und erhaben, wie er ist, und zugleich unheilvoll drohend über dem Land.
Als kind lehrte man mich dass der gletscher
unheimlich sei. Meine Leute hatten angst vor
ihm und wenn ein kind sich zu nah an ihn
heranwagte, schrie man es an.
Die Folgen sind schon heute sichtbar
Dabei müsste es das Verschwinden dieses einzigartigen Naturwunders sein, das uns Furcht einflößt.
Denn die Folgen werden schon heute sichtbar: Steigende Meeresspiegel gefährden Küstenregionen überall auf der Welt.
der tod der gletscher führt zum tod von land
und küste und ertrinkenden städten
Osaka, Den Haag, Venedig, Shanghai
Mit dem ewigen Eis geht auch ein Stück Identität verloren - ist doch Island, die Insel aus Feuer und Eis, ohne seine einzigartige Natur nicht zu denken.
Wasfür-länder werden wir so genannten Is-
länder wenn der gletscher geht?
IS-länder nicht.
Und so mischen sich in die Verse Ungläubigkeit, Verzweiflung und Wut angesichts einer Katastrophe, die nicht mehr aufzuhalten scheint.
Wenn ich einen zauber könnte
würde ich die ausgezehrte mutter wieder aufrichten.
würde ich die weiße farbe
zurückzaubern in die welt
Das langsame Sterben des Gletschers, es bedeutet nicht nur einen Abschied von einem Freund, sondern auch das Ende der eigenen Kindheit.
Und die Einsicht, dass auch wir vergänglich sind.
Text: Nicole Maschler
Steinunn Sigurðardóttir
Nachtdämmern
Dörlemann Verlag 2022
100 Seiten
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