04.02.2021

Islands Weg ins Licht

In 60 Kilo Sonnenschein erzählt Islands großer Romancier Hallgrímur Helgason die Geschichte des Waisenjungen Gestur und schildert zugleich den beschwerlichen Aufbruch seines Landes in die Moderne. Ein sprachgewaltiger Roman voller Witz und Weisheit. 

 

Brücke in Siglufjörður mit Blick auf schneebedeckte Berge. Bild von Luciano Braga auf Unsplash.
Brücke in Siglufjörður, das Vorbild für das kleine Fischerdorf in "60 Kilo Sonnenschein" ist. © Luciano Braga auf Unsplash.

 

Zehn Tage lang war Eilífur unterwegs, durch Schneewehen und eisige Kälte. Als der Bauer zurückkehrt, gibt es kein Zuhause mehr – eine Lawine hat sein Heim und die Familie verschüttet. Überlebt haben nur die Kuh Helga und der kleine Gestur.

 

„Und das alles für drei Kilo Weizen, Brot und Kuchen.“

 

Von allen Orten in Island ist Segulfjörður der nördlichste. Der Fjord, an dem er liegt, ist von hohen Bergen umgeben, und so karg wie die Landschaft ist auch das Leben der Bewohner:innen, von dem Hallgrímur Helgason in 60 Kilo Sonnenschein erzählt.

 

Wirtschaftlich isoliert: Island um 1900

 

Der Roman spielt um 1900 – zu einer Zeit, als der abgelegene Ort nur auf dem Seeweg erreichbar ist. Während überall in Europa Siedlungen entstehen und die Industrialisierung einsetzt, ist Island wirtschaftlich weitgehend isoliert.

 

Gesturs Vater Eilífur verdingt sich auf einem Haifischfänger, um den Sohn und sich durchzubringen. Doch bei einem Schiffsunglück kommt er ums Leben, und Gesturs Ziehvater, der Kaufmann Kopp, verstößt den Jungen schon nach kurzer Zeit.

 

Als Waise wächst Gestur schließlich bei dem Zimmermann Lási auf.

 

Kein leichter Start, und das könnte man auch über Islands Weg in die Moderne sagen.

 

In eindrücklichen Bildern schildert Hallgrímur Helgason das Leben in dem kleinen Ort, in dem selbst bescheidener Wohlstand ein Fremdwort ist und nur der Pfarrer ein Holzhaus mit Glasfenstern bewohnt.

 

Die Gemeindemitglieder leben in trostlosen Verhältnissen, haben nur das Notwendigste zum Überleben und allzu oft nicht einmal das. 

 

„Lammen, Entwöhnen, Almauftrieb, Heuernte, Schlachten, Strickwochen, winterliche Fangzeit, Frühjahrsfangzeit.“

 

Jeder Tag gleicht dem anderen. Ein Leben ohne Träume, eine Zukunft ohne Hoffnung.


 

Das ändert sich erst, als die Norweger mit ihren Schiffen kommen und beschließen, Hering in Segulfjörður anzulanden und einzusalzen, um ihn von dort zu exportieren.

 

Ein Fisch, den die Isländer über Jahrhunderte hinweg verschmäht haben, obgleich sich immer wieder riesige Schwärme in den Fjord verirrten: „Welcher Verrückte stellte leere Fässer auf sein Deck und füllte sie dann mit Fisch?“

 

Doch schließlich erkennen auch die Menschen in Segulfjörður, welche Chancen der Heringsfang bietet. Es sind die jungen Frauen aus dem Dorf, die beherzt zupacken und den fangfrischen Hering am Hafen ausnehmen.

 

Das bedeutet Arbeiten im Akkord, aber ihre schmerzenden Rücken und Knie spüren sie kaum.

 

Nach tausend Jahren in Kälte und Dunkelheit endlich Licht

 

„Endlich war die Kette der Arbeitstage zu einer Stufenleiter geworden.“ Denn die Norweger entlohnen die Mägde und Knechte für ihre Tätigkeit, erstmals verdienen sie ihr eigenes Geld.

 

„Nach tausend Jahren Schufterei in Kälte und Dunkelheit sollte also endlich das Licht in diesen Fjord gebracht werden.“

 

Mit dem Handel hält der Fortschritt Einzug, und bald schon ist der Ort nicht mehr wiederzuerkennen. „Aus dem Nichts zu Etwas, aus der Grassodenwelt in eine Holzwelt, aus den Strümpfen in Schuhe, vom Katen-ismus zum Kapitalismus.“

Heringsmuseium in Siglufjörður© Luciano Braga auf Unsplash.

Seit vielen Jahren ist Hallgrímur Helgason einer der wichtigsten isländischen Romanciers, seine Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

 

Bekannt ist er für seinen Sarkasmus und seinen schrägen Humor. Doch mit diesem Roman schlägt er einen anderen Ton an, ernster, warmherziger, weniger grell.

 

 

 


Gleichwohl scheint der Witz immer durch, wenn er seinen eigenwilligen Charakteren folgt: dem neuen Pfarrer Séra Árni und seiner eleganten Frau Vigdís, ihrer Freundin Súsanna, die sich in den wagemutigen Kapitän aus Norwegen schockverliebt, dem Zimmermann Lási, Gesturs gütigem Ziehvater, dessen hübscher Enkelin Helga, für die der Waisenjunge mehr als nur ein weiteres Familienmitglied ist.

 

Sie alle haben ihre eigene Art, mit dem Zeitenwandel umzugehen: Der Pfarrer, der alte isländischen Volkslieder sammelt, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, Lási, der sich in seinen Büchern verkriecht, Súsanna, die es mit ihrem Liebsten in die Ferne zieht. 

 

Wie Hallgrímur Helgason die kleine Gemeinschaft beschreibt, das ist nie abschätzig, sondern immer wohlwollend und voller Neugier. Und so entsteht zugleich das berührende Bild einer Epochenwende.

 

Nördlichste Gemeinde Islands als historisches Vorbild 

 

Den Ort der Handlung gibt es wirklich: die kleine Gemeinde Siglufjörður, die aufgrund ihres Hafens und der ertragreichen Fanggebiete lange Zeit eine besondere Bedeutung für Islands Wirtschaft hatte.

 

Mitte des 20. Jahrhunderts lebten hier 4.000 Menschen, in den Sommermonaten waren es vier Mal so viele, und der Fang, der hier angelandet wurde, sicherte ein Fünftel der isländischen Deviseneinnahmen. Doch das ist eine andere Geschichte.

 

Trotz realer Bezüge erhält der Roman fast gleichnishafte Züge, wenn Gestur am Ende die Verantwortung für ein Findelkind übernimmt – nehmen doch auch die Isländer ihr Schicksal schließlich in die eigene Hand, eine hellere Zukunft im Blick.

 

Und so ist 60 Kilo Sonnenschein  eine Geschichte vom Erwachsenwerden und vom Aufbruch Islands in die Moderne – einem Land, das erst spät zu sich findet. 

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Hallgrímur Helgason

60 Kilo Sonnenschein

Tropen Verlag 2020

566 Seiten