20.04.2022
Russlands Krieg in der Ukraine stellt in Island jahrzehntelange Gewissheiten infrage. Lange hat es Distanz zur Nato gewahrt und versucht, den Norden aus den Spannungen der Großmächte herauszuhalten. Nun wächst die Einsicht, dass Sicherheit ihren Preis hat.
Russlands Krieg in der Ukraine verändert die Welt – und auch Europas Norden. Während Schweden und Finnland eine historische Wende zur Nato vollziehen, stellt die russische Aggression auch in Island jahrzehntelange Gewissheiten infrage.
Nach der Unabhängigkeit von Dänemark 1944 pochte es auf seine Souveränität – doch mit der neuen geopolitischen Realität gerät das Selbstverständnis als neutraler Staat ins Wanken.
Bereits unmittelbar nach dem russischen Einmarsch hatte Regierungschefin Katrín Jakobsdóttir betont, dass Island als Nato-Gründungsmitglied mit seinen Alliierten kooperieren werde.
Nach Jahren der ostentativen Distanz rücken Island und das Bündnis wieder näher zusammen.
Doch das Verhältnis bleibt schwierig. So vertritt die Links-Grüne Bewegung von Ministerpräsidentin Katrín Jakobsdóttir eine dezidiert pazifistische Politik und befürwortet einen Nato-Austritt. Die Unabhängigkeitspartei hingegen, mit der Jakobsdóttir seit 2017 am Kabinettstisch sitzt, gehört zu den Unterstützern der Allianz. Um des Koalitionsfriedens willen blieb das Thema bislang ausgespart.
Doch jetzt scheint die stillschweigende Übereinkunft aufzubrechen. So fragte die Tageszeitung Morgunblaðið jüngst führende Politiker:innen, ob Nato-Truppen künftig dauerhaft auf der Insel stationiert werden sollten.
Island ist auf der Suche nach seiner Rolle in einer neuen Welt.
"Unsinkbarer Flugzeugträger"
Wegen ihrer geographischen Lage spielte die Insel stets eine wichtige militärstrategische Rolle. Der britische Premierminister Winston Churchill bezeichnete Island einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ im Nordatlantik.
Nachdem im Zweiten Weltkrieg zunächst britische Truppen die Insel besetzt hatten, stationierten die USA ab 1941 Soldaten auf Island, die Nachschub-Routen gegen deutsche U-Boote sichern sollten. Während des Kalten Krieges waren es dann sowjetische Verbände, die aus dem Nordpolarmeer in den Atlantik vorzudringen drohten. Island blieb ein wichtiger Eckpfeiler der US-Militärstrategie.
Dabei war der Nato-Beitritt 1949 in der isländischen Bevölkerung heftig umstritten. Vor der entscheidenden Parlamentsabstimmung kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Fürsprechern und Bündnisgegnern, die das AlÞing mit Steinen und Eiern bewarfen – bis die Polizei die Menge schließlich mit Tränengas auseinandertrieb.
Als einziges Nato-Mitglied besitzt Island bis heute keine Streitkräfte. Neben der Küstenwache gibt es nur eine kleine Einheit für Kriseneinsätze, die von der Interaktion mit den Verbündeten abhängig ist.
Als Beitrag zum Verteidigungsbündnis stellte Island im Kalten Krieg klar abgegrenzte Gebiete zur militärischen Nutzung zur Verfügung. Die wichtigste Anlage war bis 2006 die Marine- und Luftwaffenbasis Keflavík nahe der Hauptstadt Reykjavík, die hauptsächlich US-Streitkräfte, aber auch Kanada, Dänemark, Norwegen und die Niederlande nutzten – und die über Jahrzehnte für Debatten und Proteste im Land sorgte.
Als mit dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges neue Konfliktherde in den Fokus rückten, schlossen die USA den Stützpunkt, und die Militärpräsenz der Nato wurde auf ein Minimum reduziert. Fliegerstaffeln waren mehrmals pro Jahr im Einsatz; doch ein ständiger Aufenthalt vor Ort war nicht erwünscht.
"Kein Verlangen nach einer Armee"
„Es gibt in Island kein Verlangen nach einer Armee“, sagte der Politikwissenschaftler Baldur Þórhallsson von der Universität von Island jüngst dem Online-Magazin Reykjavík Grapevine. „Und das ist etwas, worauf die Isländer:innen sehr stolz sind.“
Doch mit dem russischen Angriff auf die Ukraine könnte ein Umdenken einsetzen. „Ein Gegner sieht in Island womöglich das schwächste Glied in der Kette. In Kriegszeiten könnte das die isländische Regierung dazu bringen, eine dauerhafte Militärpräsenz der Nato zu erbitten“, glaubt Baldur Þórhallsson.
Bereits in den vergangenen Jahren hat Island Beiträge und Personal für Nato-Institutionen und -Missionen aufgestockt. Nach einem Sondergipfel der Bündnispartner Ende März kündigte Premierministerin Katrín Jakobsdóttir an, das Budget weiter zu erhöhen.
Unmittelbar vor Ostern fand in den Gewässern um Island die Nato-Übung Northern Viking statt, an der rund 700 Militärangehörige aus den USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Norwegen beteiligt waren.
Gemeinsam mit US-Streitkräften überwacht Island die zunehmenden Luft- und Unterwasseraktivitäten Russlands und behält die sog. GIUK-Lücke im Blick – eine gedachte Linie zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich. Die Nato ist hier besonders verwundbar, weil das Gebiet den Zugang zum Atlantik sichert und zudem zahlreiche transatlantische Tiefsee-Datenkabel birgt.
Russland ist mehr denn je in der Lage, mit seinen U-Booten in die Region vorzudringen. Es hat in den vergangenen Jahren mehrere Marinestützpunkte im nördlichen Polarkreis errichtet und seine Nordmeerflotte mit ihrem enormen Nuklearpotenzial konsequent aufgerüstet.
Islands sicherheitspolitisches Dilemma
Island bringt das in ein sicherheitspolitisches Dilemma – hat es doch stets versucht, den hohen Norden aus den politischen Spannungen zwischen den Großmächten herauszuhalten.
Bisher setzte Reykjavík vor allem auf den Arktischen Rat, um den Dialog der Nordpol-Anrainer aufrechtzuerhalten und dabei sicherheitspolitische Fragen so weit wie möglich auszuklammern.
Doch mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat das Gremium seine Arbeit vorerst eingestellt – und in Island wächst die Einsicht, dass Sicherheit ihren Preis hat.
Text: Nicole Maschler
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