15.12.2020
Mit glaubwürdiger Politik will Islands Premierministerin Katrín Jakobsdóttir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Doch die Corona-Krise stellt alte Gewissheiten auf den Prüfstand - und ist auch eine Bewährungsprobe für die junge Regierungschefin.
Als Jugendliche hat Katrín Jakobsdóttir Bücher von Agatha Christie verschlungen. Ihre Abschlussarbeit an der Uni schrieb sie über Arnaldur Indriðason, Islands erfolgreichsten Krimi-Autor. „In Krimis geht es darum, dass man keinem wirklich trauen kann. Und genauso funktioniert Politik“, zitierte sie die britische Tageszeitung The Guardian.
Dabei ist Jakobsdóttir der lebende Beweis für das Gegenteil. Die Menschen vertrauen ihr. 2016 wurde sie in einer Umfrage zur glaubwürdigsten Politikerin Islands gewählt – noch vor dem beliebten Präsidenten Ólafur Ragnar Grímsson. Unterstützung erhielt sie insbesondere von Jüngeren. Sie selbst sagt: „Demokratie und demokratische Werte sind vielleicht der Hauptgrund, weshalb ich in der Politik bin.“
Jakobsdóttir sei “eine Sozialistin, eine Feministin und eine Umweltschützerin“ und habe sich mutige Ziele gesetzt, so der Guardian. Ihre größte Aufgabe sei es indes, das Vertrauen in die Politik wieder zu gewinnen.
Als damals jüngste Regierungschefin Europas ging sie Ende 2017 ein Bündnis ein, das in Deutschland wohl „Jamaika“ heißen würde. Der Weg dahin war mühsam. Zwei Mal lag der Chefinnenposten bereits in greifbarer Nähe. Island wurde von politischen Skandalen erschüttert, Rücktritte, Neuwahlen – viele hofften auf Jakobsdóttir. Doch die potenziellen Partner konnten sich nicht einigen.
Schließlich kam eine Regierung ausgerechnet mit den beiden Gruppierungen zustande, auf die keiner gesetzt hatte: der Fortschritts- und der Unabhängigkeitspartei – traditionsverhaftet, männerdominiert, in Korruptions- und Finanzskandale verstrickt.
Eine „höchst ungewöhnliche Koalition“, wie die Premierministerin einräumte – mit dem Juniorpartner am Steuer. An Jakobsdóttirs Seite: ihr Vorgänger Bjarni Benediktsson, der sein Amt wegen einer Vertuschungsaffäre aufgeben musste.
Im Parlament hat die Koalition lediglich eine hauchdünne Mehrheit von 35 der 63 Sitze. Ein Risiko, gewiss – und doch die absolut richtige Entscheidung, ist die Frontfrau der Links-Grünen Bewegung überzeugt. „Wir müssen das System verändern, deshalb brauchen wir alle am Tisch.“
Eine Politikerin von nebenan
Die 45-Jährige wirkt zierlich, „fast elfenhaft“, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Auf Fotos lächelt sie meist, setzt auf Natürlichkeit statt auf Makeup und Styling. Eine Politikerin von nebenan, die sich ein Leben jenseits der Amtsgeschäfte bewahrt hat.
2013 traten sie und eine Freundin der Magiergilde bei, als erste Frauen in Island; selbst auf der jährlichen Regierungsparty hat sie schon gezaubert. Zum 20. Jubiläum des Iceland Airwaves-Festivals 2018 veröffentlichte Jakobsdóttir auf spotify eine Playlist mit Songs von David Bowie über Nick Cave und Björk bis hin zu Kraftwerk. Es ist diese Lässigkeit, die ankommt.
„Ist die wirklich so cool?“, betitelte Bild einen Artikel über Islands Regierungschefin. Die Antwort gab Jakobsdóttir selbst, als sie im Oktober beim Online-Interview plötzlich von einem Erdbeben überrascht wurde. „Nun ja, das ist Island“, sagte sie und widmete sich nach einer Schrecksekunde kurzerhand wieder Islands Corona-Management.
Doch ihr ungezwungenes Auftreten sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Jakobsdóttir weiß, was sie will. Als US-Vizepräsident Mike Pence im September 2019 mit ihr über „die russische Aggression“ in der Arktis sprechen wollte, ließ die Regierungschefin ausrichten, sie habe keine Zeit.
Konflikte zwischen den USA, Russland und China hatten zuletzt die Arbeit im Arktischen Rat erschwert, dem Island derzeit vorsitzt. Für Jakobsdóttir kein Grund, sich von den Großen bedrängen zu lassen. Den Einsatz von Militär und der Nato lehnt ihre Partei ohnehin ab.
Jakobsdóttir, die sich schon als Jugendliche politisch engagierte, war 1999 Gründungsmitglied der Links-Grünen Bewegung, später Chefin der Nachwuchsorganisation, 2013 schließlich Parteivorsitzende. Im Parlament ist sie seit 2007. Ein Politik-Profi.
2009 holte sie Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir ins Kabinett, als Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Nordische Kooperation. Themen, die ihr noch heute am Herzen liegen. So versprach sie, den wirtschaftlichen Aufschwung für mehr Investitionen in Gesundheit und Erziehung zu nutzen.
Wellbeing Economy und Gleichstellung
Gemeinsam mit Schottlands Erster Ministerin Nicola Sturgeon und Premierministerin Jacinda Ardern aus Neuseeland hat Jakobsdóttir im Dezember 2019 eine Wohlfahrtsagenda präsentiert. Das Ziel: „eine alternative Zukunft auf der Grundlage von Wohlstand und Wachstum, an dem alle teilhaben“.
Die Idee ist nicht neu. Wellbeing Economy, heißt das – Ökonomie des Wohlergehens. Gemessen wird nicht nur das, was ein Preisschild hat, sondern auch Wohlfahrt und Lebensqualität. Die Initiative sei keineswegs eine „weibliche Gegenreaktion“ auf populistische Tendenzen, so Jakobsdóttir.
Und doch wundert es nicht, dass sich Jakobsdóttir ausgerechnet mit zwei Amtskolleginnen zusammengetan hat. Die Regierungschefin gilt als Vorkämpferin in Sachen Gleichstellung. Sie selbst war neben ihrer politischen Arbeit als Lektorin an der Hochschule tätig, wurde als Ministerin mit ihrem dritten Kind schwanger und ging ganz selbstverständlich in Mutterschutz. Ein role model – selbst im Vorzeigeland Island.
Zwar führt die Insel seit Jahren das Ranking des Global Gender Gap Report an, mit dem das Weltwirtschaftsforum jedes Jahr die Gleichberechtigung in 153 Ländern misst. Aber viele Isländerinnen arbeiten in schlecht bezahlten Jobs, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Gerade 8% der Unternehmen werden von Frauen geführt. Als erstes Land weltweit hat Island daher 2018 Firmen mit mehr als 25 Beschäftigten gesetzlich zur Lohngleichheit verpflichtet.
„Mangelnde Repräsentanz“, sagt Jakobsdóttir, „ist nicht nur Frauen-Sache“. Die Maßnahmen sollten bis 2021 umgesetzt werden. Allein, die Corona-Krise machte alle Pläne zunichte.
Wirtschaftseinbruch in der Corona-Krise
Dank der Insellage konnte Island die Pandemie zwar zunächst besser eindämmen als andere Länder; nicht einmal einen vollständigen Lockdown gab es. Aber die Wirtschaft ist stark eingebrochen. Insbesondere der Tourismus liegt darnieder. Rund ein Drittel aller Arbeitsplätze steht auf dem Spiel. Die Arbeitslosenquote ist hochgeschnellt.
Jakobsdóttirs Regierung hat im März ein Maßnahmenpaket von 1,6 Mrd. US-Dollar geschnürt – 8% des isländischen BIP. Ein zweites folgte. Der Staat übernimmt Lohnfortzahlungen für die Beschäftigten. Überbrückungskredite an Unternehmen, öffentliche Infrastrukturprojekte und vorgezogene Steuererleichterungen sollen die Wirtschaft stützen.
Noch Ende 2019 gingen Experten davon aus, dass Island seine wirtschaftliche Flaute in diesem Jahr hinter sich lassen würde. Doch danach sieht es momentan nicht aus.
Durch eine schlechte Saison ist auch die zweite wichtige Branche des Landes – die Fischindustrie – hart getroffen. Der Brexit macht die Sache nicht besser. Sie wünsche sich, „dass wir in unserem kleinen Land noch viel diversifizierter werden“, hatte Jakobsdóttir bereits 2018 gesagt. Beinahe prophetische Worte, die dennoch zu spät kamen.
Seit Oktober gelten strengere Hygiene-Maßnahmen. Die Ansteckungsrate war zuletzt höher als in allen anderen nordischen Staaten, die Infektionszahlen sind sprunghaft angestiegen. Es sei klar, dass die milden Maßnahmen aus dem Frühjahr nicht mehr wirkten, sagte jüngst Islands Chef-Epidemiologe.
Vor 20 Jahren spielte Musikfan Jakobsdóttir in einem Video der Band Bang Gang mit. Ihr Part? Düster blickende Verfolger abschütteln, cool bleiben und laufen, viel laufen. Kein Problem für die passionierte Joggerin, die bei Wind und Wetter unterwegs ist. Einen langen Atem wird Islands Premierministerin jetzt brauchen. Corona ist längst nicht vorüber, und im nächsten Jahr stehen Wahlen ins Haus.
Text: Nicole Maschler
Dieser Text ist zuerst erschienen im DIG-Newsletter 2020.
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