15.12.2020
Heiligabend ohne Bücher - das ist für Isländerinnen und Isländer wie Winter ohne Schnee. 40% aller Bücher werden in Island in der Weihnachtszeit verkauft. Kein Wunder, dass die Bücherflut vor dem Fest in Island sogar einen Namen hat: Jólabókaflód.
Die leidige Frage „Was schenke ich bloß?“ ist in Island schnell beantwortet. Wenn unterm Christbaum nicht Bücher liegen, kommt keine Weihnachtsstimmung auf. Sieben von zehn Isländerinnen und Isländern schenken am Heiligabend mindestens ein Buch.
Die isländische Bücherflut an Weihnachten hat sogar einen Namen: Jólabókaflód. Während der Nachmittag noch in trauter Runde verbracht wird, heißt es nach der Bescherung: ab aufs Sofa und Nase ins Buch.
Eine schöne Tradition, die an weniger gute Zeiten erinnert. Im Zweiten Weltkrieg war Island eines der wenigen Länder, die von den alliierten Streitkräften besetzt wurden. Es herrschte Mangel allerorten, Importwaren waren knapp und teuer. Nur Papier war erschwinglich, so dass Bücher zu einem beliebten Geschenk wurden. Die heimische Buchproduktion florierte. 1950 waren hier rund 10% der Hauptstädter beschäftigt.
Doch weil die Buchbranche nicht genügend Kapazitäten hatte, um ganzjährig Bücher zu veröffentlichen, machten die Verleger aus der Not eine Tugend – und erfanden die Bücherflut. Von den mehr als 1.500 Neuerscheinungen pro Jahr landen zwei Drittel erst im Spätherbst in den Läden.
Um bei so vielen Titeln den Überblick zu behalten, gibt es sogar eigens einen Katalog, den Bókatíðindi, den alle Haushalte in der Vorweihnachtszeit kostenlos erhalten.
Eine Idee, die inzwischen weltweit Nachahmer gefunden hat – auch in Deutschland, wo Islands Premierministerin Katrín Jakobsdóttir 2018 ein Vorwort zum deutschen Exemplar beisteuerte. Es sei „ziemlicher Mist“, schrieb sie, in Island kein Buch geschenkt zu bekommen.
40% aller Bücher werden vor Weihnachten verkauft
Für die Verlage ist die Bücherflut vor Weihnachten sogar existenziell. Laut isländischem Statistikamt wurden im Jahr 2018 beachtliche 40% aller Bücher in der Vorweihnachtszeit verkauft. Kein Wunder, purzeln in den Wochen vor dem Fest doch die (sonst happigen) Preise, und selbst in Supermärkten stehen Büchertische.
Anfang Dezember schwappt die zweite Literatur-Welle hoch: Die Nominierten für den Nationalen Buchpreis werden bekanntgegeben, und anschließend gehen die Autorinnen und Autoren auf Tour. Denn in Island gilt: keine Weihnachtsfeier ohne Lesung.
Die Bücherliebe der Isländerinnen und Isländer reicht viele Jahrhunderte zurück. Kaum eine altnordische Literatur ist so gut überliefert wie die alt-isländischen Sagen. In den langen Winternächten zogen einst Vorleser von Hof zu Hof und wärmten die Menschen mit ihren Heldenerzählungen.
Aufgrund der Abgeschiedenheit der Insel veränderte sich die Sprache seit dem 16. Jahrhundert kaum mehr – weshalb viele Isländerinnen und Isländer noch heute mittelalterliche Texte lesen können.
Literatur wurde so zentral für die Identität des Landes, das erst 1944 nach jahrhundertelanger Herrschaft durch Norwegen und Dänemark seine Unabhängigkeit erhielt. „Bücher zu lesen, war Teil der isländischen Identität“, sagt Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Halldór Guðmundsson.
2,3 Bücher lesen Isländer:innen pro Monat
Allein, für Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat die Bücherflut nicht nur Vorteile: „Leider gehen viele gute Bücher einfach in der Flut unter“, bedauerte Krimiautorin Lilja Sigurðardóttir in der Kleinen Zeitung.
Taschenbücher hatten es bis zur Jahrtausendwende besonders schwer. Viele Isländerinnen und Isländer wollten offenbar Bände, von denen sie möglichst lange etwas haben. Und auch der eBook-Markt war lange Zeit überschaubar.
Kein Wunder – schließlich lässt sich unterm Tannenbaum schlecht eine Datei überreichen.
Text: Nicole Maschler
Dieser Text ist zuerst im DIG-Newsletter 2020 erschienen.
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