27.09.2021

Sich selbst eine Insel

In ihrem poetischen Roman Miss Island erzählt Auður Ada Ólafsdóttir die Geschichte weiblicher Emanzipation in den 1960er Jahren und zeichnet zugleich das Porträt einer konservativen isländischen Gesellschaft. Die Zukunft - sie beginnt für die Heldin andernorts.

 

Frau läuft auf verschneiter Straße. Bild von Andrew Ly auf Unsplash.
Auf eigenen Wegen: die Titelheldin von "Miss Island". © Andrew Ly auf Unsplash.

 

Sie sind Freundinnen fürs Leben und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Während Isey sich und ihre Träume im Alltag mit Mann und Kind verliert, hat Hekla nur ein Ziel: Schriftstellerin zu werden. Eine Rolle, die für Frauen im Island der 1960er Jahren nicht vorgesehen ist.

 

Wie Hekla gegen alle Widerstände ihren Weg geht, davon erzählt Auður Ada Ólafsdóttir in ihrem großartigen Roman Miss Island.

 

Mit ihrer Anmut und Jugend betört Hekla die Männer. Sie stellen ihr nach, umwerben sie. Doch mehr als die Miss-Wahl, die dem Buch seinen Titel gibt, sieht das Leben für sie nicht vor.

 

Die kleine Inselgesellschaft, die heute als Hort der Gleichstellung gilt, ist über Jahrhunderte patriarchalisch geprägt; Frauen sind für Haus und Familie zuständig – ein Leben in festen Bahnen, vorgezeichnet und ohne Überraschungen.

 

Auch der Dichterfreund, wie Hekla ihren Geliebten nennt, hat klare Vorstellungen von der Rolle einer Frau. Von ihren Wünschen und Träumen weiß er wenig.

 

Lieber vertreibt er sich die Zeit mit Freunden im Café und philosophiert über Literatur und die eigenen Schreibversuche. Auf Heklas Schönheit ist er stolz, ihre Selbständigkeit und ihr Selbstbewusstsein sind eine Bedrohung für ihn.

 

Dichter sind Männer, für Frauen kein Platz

 

Lange Zeit verheimlicht sie deshalb ihre schriftstellerische Tätigkeit. Als er von ihren ersten Erfolgen erfährt, schwankt er zwischen Wut und Depression. 

 

"Dichter sind Männer", sagt Heklas Freundin Isey. Für Frauen ist in dieser Welt kein Platz.

 

Ein Spiel, das Hekla nicht mitspielen will. Sie schließt sich Jón an, ihrem Jugendfreund und Vertrauten. Er sieht ihr Potenzial, unterstützt und ermutigt sie.

 

Jón ist Außenseiter wie Hekla, als Schwuler im konservativen Island, verhöhnt, verprügelt und verachtet.

 

Doch gerade weil er nicht dem Männerbild der Zeit entspricht, kann er Hekla Freiraum lassen. Er braucht keine Frau an seiner Seite, sondern sieht in ihr eine Gefährtin, mit eigenem Kopf und eigenen Zielen.

 

Wie Hekla, für die das Schreiben existenziell ist, ist auch Jón auf der Suche nach seinem Platz im Leben. In der Gemeinschaft finden sie einen geschützten Raum und müssen doch erkennen, dass es für sie in Island keine Zukunft geben wird.

 

Während die Beatles in England den Aufbruch besingen und Martin Luther King in den USA die Freiheit beschwört, ist das Leben auf der abgelegenen Insel eng und bedrückend.

 

Ihr Text, sagt ein Verleger zu Hekla, unterscheide sich zu sehr von dem, „was wir normalerweise herausgeben“. Kreativität und neue Ideen sind Abweichungen von der Norm und nicht erwünscht.

 

Isey, erneut schwanger, entscheidet sich für die Familie. Hekla hingegen folgt Jón nach Dänemark. Die Zukunft, sie liegt außerhalb der vertrauten Welt.

 

Eine "Kartographin der Herzen" 

 

Ólafsdóttir zeichnet das Bild einer Frau, die ihren Weg geht, leidenschaftlich und entschlossen. Sie lässt sich nicht bezwingen, sondern findet Kraft in sich selbst – beinahe wie der Vulkan, nach dem der Vater sie einst benannte.

 

Dabei ist der Roman nie plakativ oder gar platt, sondern leise und poetisch. „Als Kartographin der Herzen ist Auður Ava Ólafsdóttir unübertroffen“, sagte ihr Schriftstellerkollege Sjón einmal über sie.

 

Ihre Bücher wurden in 25 Sprachen übersetzt. In Frankreich hat die isländische Erfolgsautorin für das Buch 2019 den Prix Médicis étranger erhalten. Und auch in der Heimat ist Ólafsdóttir, die Kunstgeschichte lehrt und das Museum der Universität Reykjavík leitet, vielfach ausgezeichnet. 

 

Ihre Geschichten sind von einer Weisheit, die berührt und noch lange nachwirkt. Und so endet auch Miss Island mit einer überraschenden Wendung. 

 

Nach mehreren erfolglosen Anläufen bittet Hekla ihren einstigen Geliebten, in der alten Heimat ein Manuskript für sie zu veröffentlichen – unter seinem Namen. Das Leben, es scheint dem Dichterfreund schließlich Recht zu geben.

 

Eine Geschichte gescheiterter Emanzipation also? Nein, denn Hekla weiß, was sie kann und will. Der Weg ist noch weit, doch das Ziel fest im Blick.

 

„I have a dream“, zitiert Jón im Roman Martin Luther King. Die Welt ist im Wandel – und die Zeit, sie ist auf ihrer Seite.

 

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

 

 

 

 

 

 

Auður Ava Ólafsdóttir

Miss Island

Insel Verlag 2021

239 Seiten



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