28.12.2021
Im dritten Band seiner Reihe um den pensionierten Kommissar Konráð erzählt Arnaldur Indriðason eine düstere Geschichte von Gewalt, Ohnmacht und Schmerz. Vor Jahrzehnten gab eine vergewaltigte Frau ihr Kind zur Adoption frei - mit tragischen Folgen.
Ein junges Paar steht am Fenster und küsst sich. Im Obergeschoss spielen Kinder im Wohnzimmer, die Eltern streiten. Im Haus gegenüber sitzt eine Frau am Esstisch, das Gesicht in den Händen. Ihre Nachbarin schaut Fernsehen, erhebt sich, geht zur Tür.
Es ist Valborg. Vor zwei Monaten hatte sie Konráð um Hilfe gebeten, auf der Suche nach dem Kind, das sie einst zur Adoption freigab. Nun ist sie tot, ermordet in ihrer Wohnung.
Konráð, geplagt von schlechtem Gewissen, stellt auf eigene Faust Nachforschungen an.
Nach Verborgen im Gletscher und Das Mädchen an der Brücke ist Tiefe Schluchten der dritte Band von Islands Krimi-Autor Arnaldur Indriðason um den pensionierten Kommissar. Ein Fall, der diesem einiges abverlangt – rührt er doch an alte Wunden.
Bei seinen Recherchen stößt Konráð auf eine tragische Geschichte von Gewalt, Ohnmacht und Schmerz. Nach einer Vergewaltigung wollte Valborg abtreiben, eine strenggläubige Hebamme hielt sie ab. Doch zu groß ist die Last. Sie gibt das Kind weg.
Konráðs Familiengeschichte verbindet die Bände der Reihe
Während der Täter davonkommt, müssen Mutter und Sohn mit den Geschehnissen leben. Noch Jahrzehnte später trauert Valborg um das verlorene Kind, und auch der Sohn findet kein Zuhause, verliert erst die Pflegemutter und dann den Halt.
Auch Konráð lässt die Vergangenheit nicht los. Gemeinsam mit einem „Seher“ hatte der Vater einst eine Frau um ihr Erspartes gebracht und dabei eine Familie zerstört. Betrügerische Séancen, die offenbar mit dem aktuellen Fall in Verbindung stehen.
Ein Motiv, mit dem Indriðason bereits im vorherigen Band gespielt hat. Auch in Das Mädchen an der Brücke stieß Konráð bei Recherchen auf die Machenschaften seines Vaters, der schließlich einem Mord zum Opfer fiel.
Konráðs Familiengeschichte dient so als roter Faden, der die Bände der Krimi-Reihe miteinander verbindet.
Wenngleich Konráð nicht an übersinnliche Phänomene glaubt, lassen ihn die Ereignisse von damals nicht los. Er hofft auf Antworten, warum sein Vater so war, gleichgültig und kalt gegenüber dem Schicksal anderer auch er.
Bisher in der Kommissar Konráð-Reihe erschienen:
Band 1:
Verborgen im Gletscher (Mykrið veit)
Bastei Lübbe Verlag Köln 2019, 365 Seiten
Band 2:
Das Mädchen an der Brücke (Stúlkan hjá brúnni)
Bastei Lübbe Verlag Köln 2020, 380 Seiten
Band 3:
Tiefe Schluchten (Tregasteinn)
Bastei Lübbe Verlag Köln 2021, 400 Seiten
Die Männer – sie sind hier Täter. Dass die Frauen nicht in der Opferrolle verharren, liegt an den starken Nebenfiguren, die Indriðason seinem Protagonisten zur Seite stellt:
Die resolute Kommissarin Marta ist ein erfrischender Gegenpart zu dem in sich gekehrten Konráð, der sich mitunter in Grübeleien über seinen Vater zu verlieren droht.
Und auch die emotionale Eygló, Tochter des Sehers, hält mit ihrer Meinung über dessen Gaunereien nicht hinterm Berg und zwingt damit Konráð, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Indriðason versteht es geschickt, die Nebenhandlung mit dem aktuellen Fall zu verweben, so dass man gebannt folgt.
Allein, über allem liegt eine beklemmende Düsternis.
Hinter der Fassade stößt Konráð auf Spanner, Ehebrecher und Schläger. Durch die Fenster der Wohnblöcke sehen wir Angst, Schmerz und Gewalt. Es ist die scheinbare Alltäglichkeit, die zutiefst verstört.
Nur Schein ist auch das Leben des Täters, erfolgreich im Beruf, Familie, heile Welt. Dabei schlägt er seine Frau und hat eine andere missbraucht.
In Tiefe Schluchten lässt uns Indriðason in Abgründe blicken. Der Titel des Buches könnte nicht passender sein.
Text: Nicole Maschler
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